Einführung

Befreiende Ethik – Christlich-positionale Ethik: Eine Einführung

„‘olek ethkem qomemijjoth“
„ich machte, dass ihr gehen konntet– aufgerichtet!“

(Lev 16,13)“[1]

Christlich-positionale Ethik bezieht Position; und sie nimmt einen gesellschaftlichen Standpunkt ein. Und zwar stellt sie sich auf die Seite der Unterdrückten und versucht, ihre Perspektive einzunehmen. Die Unterdrücktenwerden zur Selbstermächtigung aufgerufen und alle anderen dazu, sich als deren Interessenvertreter*innen zu verstehen. Ziel dabei ist eine Gesellschaft, die ein möglichst hohes Maß an Autonomie realisiert, also an Selbstbestimmung und Egalität, d.h. rechtlich und ökonomisch verstandene Gleichheit. Christlich-positionale Ethik ist eine befreiende Ethik und beruht auf befreiungstheologischer Grundlage.

Der Grund für diese Positionierung ist ein theologischer. Sie erfolgt in Orientierung an einer Entscheidung, die der Gott Israels laut den biblischen Schriften getroffen und die Jesus von Nazareth verteidigt hat: Gott offenbarte sich den Israeliten, einem kleinen, versklavten Volk.

„Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten sehr wohl bemerkt. Ich habe gehört, wie sie vor ihren Peinigern aufgeschrien haben. Ich kenne ihren Schmerz (Ex 3,7).“[2]

Gott hört ihre Klage, ergreift die Partei der Gepeinigten, sagt seine Gegenwart zu und verspricht, sein Volk zu befreien – ein Versprechen, dessen Einhalten angesichts der damaligen Machtverhältnisse mehr als unwahrscheinlich zu sein scheint. Die Befreiung gelingt – jedoch nicht durch das Versprechen allein, und auch nicht durch die Mirakel, die folgen. Erforderlich ist zuerst, dass konkrete Menschen – wie die Hebammen Schifra und Pua und die Geschwister Mirjam, Mose und Aron – Gottes Aufruf folgen (Exodus 1-3).[3]

In dieser Erinnerung liegt der Beginn der Befreiungsgeschichte, die für Jüd*innen und Christ*innen bis heute fortdauert. Auch Jesus von Nazareth hielt an dem sich im brennenden Dornbusch offenbarenden Gott und seinem Versprechen fest. Das Reich Gottes verkündete Jesus zuerst den Armen:

„Selig ihr Armen, denn ihr habt die Herrschaft Gottes auf eurer Seite! Glücklich ihr Hungernden, denn ihr werdet satt werden“ (Lk 6,20b – 21)[4]

Die befreiende Ethik interpretiert die biblischen Texte dahingehend, dass Christen aufgerufen sind, die Entscheidung Gottes für die Armen als ethischen Auftrag zu begreifen: indem wir Notleidenden praktisch zur Hilfe eilen, über Ausbeutungsverhältnisse aufklären und uns für deren Abschaffung einsetzen.

Um dieses Verständnis einer befreienden Ethik zu konkretisieren, arbeite ich nun zunächst anhand von drei zentralen Aspekten heraus, worin sich die christlich-positionale Ethik von den traditionellen christlich-universalen Ethiken unterscheidet. Anschließend veranschauliche ich anhand eines Beispiels, welche Gestalt das Partei-Ergreifen der christlich-positionalen Ethik innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse annehmen kann.

Unterscheidende Merkmale der christlich-positionalen Ethik

Bei den drei Aspekten, anhand derer ich die christlich-positionale Ethik von der christlich-universalen Ethik abgrenze, handelt es sich um

  1. ihr dezidiert biblisches Vernunftverständnis,
  2. ihr Verständnis des Reichs Gottes als ethischer Auftrag,
  3. ihr Verständnis von Universalität als Handlungsziel.

Christliche Vernunft

Anders als die christlich-universale Ethik, die die im Anschluss an die Philosophie der Antike Vernunft als einen Gegensatz zur Sinnlichkeit und Erfahrung begreift, lässt sich dieVernunft der befreienden Ethik von der Not berühren, besonders jener, die Unterdrückung und Ausbeutung erfahren. Sie ist darin dezidiert biblisch.[5] Wenn ich mich auf die Seite der Armen und der Unterdrückten begebe, verlasse ich den objektiven Standpunkt und sehe, was ich vorher nicht gesehen habe. Mit Empathie – mit Compassion[6] – erschließt sich die Wirklichkeit neu und es erwacht das Bestreben, das menschengemachte Leiden zu mindern, ja es zu beenden: das Bestreben, die Menschen vom Kreuz zu nehmen.

Das Reich Gottes

Die vier Evangelien sind sich einig, dass das Reich Gottes im Zentrum der Botschaft Jesu steht. In den christlich-universalen Ethiken wird dieses Reich Gottes zu einem bloßen Symbol vergeistigt.[7] Die Befreiungstheologie versteht es dagegen als eine potenzielle historische Größe, einen realen Zielpunkt unserer Geschichte, auf den wir hinarbeiten sollen. Wenn Jesus den Fischern und Landlosen Galiläas im Imperium Romanum versprach, dass sie satt sein werden, fasse ich diesesVersprechen heute als einen Imperativ auf, für eine Gesellschaft zu streiten, in der den Armen der Zugang zu den lebenswichtigen Ressourcen erhalten bleibt bzw. eröffnet wird. Zugleich ist das Reich Gottes oder, in der Übersetzung der Exegetin Luise Schottroff, „Gottes gerechte Welt“ eine präsentische Größe, die den Gläubigen bereits jetzt in die neue Wirklichkeit hineinnimmt.[8]

Universalität

Während die christlich-universale Ethik beansprucht, Werte wie beispielsweise Freiheit, Liebe und Gewaltlosigkeit begrifflich herleiten zu können, thematisiert die befreiende Ethik bestimmte soziale Praktiken und deren Relevanz für Christ*innen und für die jeweilige Gesellschaft. So steht das „Brot-Brechen“ (vgl. Mk 8,6, 14,17)[9] das liturgisch im Abendmahl bzw. in der Eucharistie gefeiert wird, für geübte Solidarität. Und mit der Taufe tritt der Täufling in eine neue interethnische Gemeinschaft ein, in der Geschlecht, Hautfarbe, nationale oder ethnische Herkunft und ökonomischer Status keine Rolle mehr spielen, in der alle „einer in Christus“ sind (Gal, 3,27-28).[10] Diese neue soziale Praxis, die mit der Taufe verbunden ist, lässt sich als transnationale Geschwisterlichkeit verstehen.[11] Universalität gilt also nicht als ein Prinzip a priori, sondern sie wird durchdie sozialen Praktiken wie der des Brotbrechens und der transnationalen Vergeschwisterung praktisch hervorgebracht und erlebbar.

Ein befreiungstheologisches Plädoyer für das Lieferkettengesetz

Was kann es nun praktisch bedeuten, sich innerhalb unserer Gesellschaft christlich zu positionieren? Das möchte ich anhand der Debatte um das Lieferkettengesetz vorführen, das ab dem 01.01.2023 umgesetzt werden soll.

Mehr als sieben Jahre ist jetzt her, dass am 24. April 2013 das Gebäude Rana Plaza in einem Vorort von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, einstürzte. 1136 Menschen starben und mehr als 2000 Menschen wurden verletzt. Zum Einsturz kam es aufgrund der Verwendung minderwertiger Materialien und unsachgemäßer Verfahren; dass das Unglück ein so katastrophales Ausmaß erreichte, war die Folge davon, dass die Betreiber*innen mehrerer ansässiger Textilfabriken ihre vom geringen Mindestlohn lebenden Arbeiter*innen zwangen, am 24. April zu erscheinen, obwohl bereits am Tag zuvor Risse im Gebäude festgestellt worden waren. In den Fabriken war Kleidung hergestellt worden, deren Abnehmer Unternehmen wie Benetton, C&A, KiK, Mango, Primark waren und deren Verkaufsfilialen in allen deutschen Großstädten anzutreffen sind.[12]

NGOS, darunter viele kirchliche Gruppen, schlugen Alarm und forderten einen gesetzlichen Rahmen für den globalen Handel, der auch jenseits deutscher Grenzen bindend sein sollte.[13] In Deutschland setzte die Bundesregierung zunächst auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Unternehmen in Form der unternehmerischen Sorgfaltspflicht[14], aber das brachte keinen Erfolg, wie durch zwei Umfragen der Bundesregierung 2019 und 2020 festgestellt wurde.[15] Erst jetzt reagierten Arbeitsminister Hubertus Heil und Entwicklungsminister Gert Müller mit dem Entwurf eines Lieferkettengesetzes,[16] das deutsche Unternehmen mit über 500 Mitarbeiter*innen dafür haftbar machen soll, wenn in ihren Zulieferbetrieben Menschenrechte und Umweltgesetzgebung missachtet werden. Lars Feld, Chef der sogenannten Wirtschaftsweisen behauptete, damit werde „die Axt an das bisherige Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft mit starken internationalisierten Wertschöpfungsketten und einer starken Produktion im Ausland gelegt.“[17] Gerd Müller hielt dagegen: Schon ein Preisaufschlag von zwei statt fünf Euro beim Einkaufspreis einer Jeans genüge, um den geplanten Gesetzesbestimmungen zu entsprechen. Das könne unmöglich die ganze deutsche Exportwirtschaft zu Fall bringen.[18] Ähnlich niedrig veranschlagen NGOs die finanzielle Belastung durch das Lieferkettengesetz.[19]

Die Befürworter*innen eines starken Lieferkettengesetztes argumentieren damit insofern auf gleichem Boden wie die Wirtschaftsvertreter*innen, als sie damit die Prämisse anerkennen, dass der wirtschaftliche Erfolg und Misserfolg der von dem Gesetz betroffenen Unternehmen ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Gesetzes ist. Zwar mag es in strategischer Hinsicht im diskursiven Kampf der NGOs gegen die Wirtschaftsvertreter*innen sinnvoll erscheinen, die ökonomische Zumutbarkeit der Gesetzesbestimmungen zu betonen. Aber wenn man sich auf den Boden einer Argumentation stellt, die die finanzielle Belastung der Unternehmen zum Kriterium macht, dann affirmiert man die mit diesem Boden gegebene Prämisse, dass es eine Grenze dieser Zumutbarkeit könne: einen Punkt, an dem Menschenrechte und Naturschutz hinter dem ökonomischen Nutzen zurückstehen müssen.

Dabei liegt das Interesse der Unternehmen am Beibehalten des Status quo auf der Hand. Die aktuellen globalen Lieferketten sind Resultate der Bemühungen der Unternehmen, Rohstoffe preisgünstig zu erwerben und jedes Zwischenprodukt dort herstellen zu lassen, wo aufgrund von Infrastruktur, Arbeiterschaft und verkehrstechnischer Anbindung etc. möglichst kostengünstig produziert werden kann. Zu solchen kostengünstigen Bedingungen gehört im Zweifelsfall eben auch, dass man, wie im Rana Plaza geschehen, durch die Missachtung von Sicherheitsvorkehrungen tausende von Arbeiter*innen in Lebensgefahr bringt.

Wenn die Wirtschaftsvertreter*innen mit ihrer Kritik am Lieferkettengesetz mehr oder weniger explizit verkünden, sich Menschenrechte und Naturschutz schlicht nicht leisten zu wollen oder zu können, dann hilft es aus befreiungstheologischer Sicht nicht, sich etwa mit dem Hinweis, die Belastung der Arbeitgeber*innen werde gar nicht so groß sein, sich auf ein Verhandeln des Spielraums einzulassen, der den Unternehmen zugestanden werden soll. Vielmehr sind doch die Gewinneinbußen, die infolge der Verpflichtung auf Menschenrechte und Naturschutz entstehen, nur ein weiterer Beweis dafür, dass der bisherige ökonomische Erfolg durch Ausbeutungsprozesse ermöglicht wurde.

Die gravierendsten Formen der Ausbeutung, Zwangsarbeit und Kinderarbeit, finden sich häufig am Beginn der Lieferkette, wenn es darum geht die Rohstoffe für spätere Produkte, etwa Baumwolle, Granit, Kobald, Coltan, Lithium etc. zu gewinnen.[20] Nach biblischem Zeugnis ist es jedoch gegen den Willen Gottes[21], Menschen unter unwürdigen Bedingungen schuften zu lassen und sich selbst den Mehrwert anzueignen. Damit ist es Christ*innen theologisch geboten, sich weder als Konsument*in noch als Arbeitgeber*in daran zu beteiligen; auch dann nicht, wenn der Ort des Geschehens fernab von uns, auf den Baumwollfeldern Afrikas oder den Steinbrüchen Indiens liegt.[22] Im Gegenteil ist es Aufgabe der Christ*innen, solche Ausbeutungsprozesse sichtbar zu machen und zu versuchen, ihre Beendigung herbeizuführen.

Aber, so wenden Kritiker*innen ein, hier stehen doch Arbeitsplätze auf dem Spiel. Das kann tatsächlich immer der Fall sein, wenn die Bedingungen, unter denen Unternehmen profitabel arbeiten können, gesetzlich begrenzt werden. Aber nach Maßgabe dieses Einwandes hätte es seit den Zeiten des „Manchester-Kapitalismus“ keinerlei Fortschritt der Arbeitsbedingungen geben dürfen: Arbeitszeitbegrenzung, Verbot gesundheitsschädlicher Materialien am Arbeitsplatz, Verbot von Kinderarbeit, Streikrecht – bei Einführung jeder dieser Maßnahme musste ein Teil der Unternehmen befürchten, unter den neuen Bedingungen nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Hinzu kommt, dass auch unter den im globalen Kapitalismus bereits gegebenen Bedingungen der Konkurs von Unternehmen zur Normalität gehört.

Aus Sicht der christlich-positionalen Ethik kann es daher nicht darum gehen, den Erhalt von Arbeitsplätzen in ausländischen Produktionsstätten an sich als (sozial)politisches Ziel zu akzeptieren. Vielmehr ist ihr die Verpflichtung von global agierenden Unternehmen zumindest auf die Menschenrechte und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sowie für die Verbesserung der Lebensumstände von Menschen, die arbeitslos werden – sei es aufgrund des Konkurs eines Unternehmens oder aufgrund eines Arbeitsunfalls, einer Krankheit oder Schwangerschaft – ein zentrales sozialethisches und theologisch begründetes Anliegen. Entsprechend gehört die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des Lieferkettengesetzes mitten hin in den kirchengemeindlichen Kontext und seine Debatten. Er darf nicht an ökonomisches Fachpersonal abgegeben werden, wenngleich deren Erkenntnisse selbstverständlich einzubeziehen sind.[23]

Ich hoffe, dass anhand dieses Beispiels deutlich geworden ist, wie christlich-positionale Ethik vorgeht, wenn sie Verhältnisse wahrnimmt, reflektiert und sich in konkrete Auseinandersetzungen einmischt. Ausgehend vom Glauben an den einen befreienden Gott, wie ihn biblische Texte hörbar machen (Ex 3[24]), schaut sie auf unsere Gesellschaft und zeigt sich dabei für die Stimme der ökonomisch an den Rand Gedrängten besonders sensibel. Sie stellt sich auf die Seite der Ärmsten, denen die Botschaft Gottes, des Befreiers, zuerst gilt.

Christliche Ethik in ihrem pluralen Kontext

Nun liegt es nicht auf der Hand, welche Relevanz eine christliche Ethik innerhalb einer pluralen Gesellschaft haben kann. Die christlich-universale Ethik glaubt diese Frage mit ihrem Anspruch beantworten zu können, ihre Werte aus der universellen Vernunft herzuleiten. Diese Ausflucht steht der befreienden Ethik nicht zur Verfügung, da es ihr Anspruch ist, die biblische Ethik zu aktualisieren. Gleichzeitig steht uns mit dem christlichen Fundamentalismus, der ebenfalls die Bibel zugrunde legt und seinen faschistoiden Partikularismus auf die Buchstaben der Bibel projiziert, eine gefährliche Alternative zum traditionellen universalistischen Anspruch vor Augen.

Für die befreiende Ethik erwächst daraus kein Dilemma, weil sie ihr Verhältnis zur Gesellschaft von ihrer Praxis aus denkt – sei es als Einspruch, sei als konstruktiv gelebte Alternative. Ihre biblisch gewonnenen Grundentscheidungen versucht die befreiende Ethik zudem plausibel zu machen, indem sie auf verschiedene Weisen an die Interessen, Bedürfnisse und Denkkategorien von Nichtchristen anknüpft und dabei die universale Vernunft keineswegs ausschließt. Ein zentraler Gesichtspunkt ist dabei, wie von Jon Sobrino entwickelt, das Interesse der Ärmsten: Erst wenn sie – unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Weltanschauung – Christen und Kirchen als ihre Interessenvertreter wahrnehmen, erst wenn sie die christliche Botschaft von der Liebe Gottes auch materiell als etwas Heilsames und Rettendes erleben, das ihnen und ihren jeweiligen Gemeinschaften in schwierigen und bedrohlichen Lagen besonders gilt, können Christen darauf vertrauen, dass sie dem befreienden Gott Jesu dienen und nicht in Selbsttäuschung einem Götzendienst verfallen sind.[25]

Ein weiterer Weg, die befreiende Ethik auf säkularer Ebene plausibel zu machen, führt über das Verständnis der oben als biblisch bezeichneten Vernunft. Wir erinnern uns: Sie hat sich aus der Erfahrung entwickelt, dass Gott die Schmerzen der versklavten Israeliten kennt und sich ihnen zuwendet, um diese Schmerzen zu heilen (Ex 3,17)[26]. Ihr säkulares Äquivalent dazu ist die empathische Vernunft. Zeitgenössische Psycholog*innen wie der Schweizer Psychologe Arno Gruen stellen diese empathische Vernunft und die Erkenntnis, dass Menschen empathische Wesen sind, in den Mittelpunkt ihrer therapeutischen Arbeit und ihrer Forschung.[27] Zugang zu den eigenen Gefühlen zu haben und infolgedessen auch zu denen unserer Mitmenschen, sieht Gruen als Voraussetzung dafür, dass Menschen zur Selbstbestimmung fähig sind und nicht zum Spielball von Manipulation werden. Im Gegensatz dazu verhärtet das schnelle Wegwischen von Gefühlen durch vermeintlich rationale Argumente Menschen und bahnt den Weg zu Feindbilddenken und Gewalt. Unsere Kultur ist stark von diesen Mechanismen geprägt – dem Verdrängen und Verleugnen von Gefühlen und der Projektion der verdrängten Ängste und Aggressionen auf den Gegner.[28]

Die biblisch verbürgte Vision einer solidarischen Gesellschaft, die menschliche Not individuell und empathisch wahrnimmt, sich ihrer individuell wie auch kollektiv annimmt und sie zu heilen versucht, anstatt Menschen in Not durch Sprachbilder wie „Flüchtlingsflut“ zu einem Feindbild zu abstrahieren, ist ein Gegenentwurf dazu. Indem sie Gleichheit und Autonomie fördert, behält der und die Einzelne ihren Wert und ihren Schutzraum. Diese Vision ist religions- und weltanschauungsübergreifend. Der Weg dorthin kann aus verschiedenen Richtungen erfolgen.


[1]   Übersetzung von Ton Veerkamp, in: Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift. Berlin 1993, S. 376.

[2]   https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Ex/3/7-/

[3]   https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Ex/1/15-/

[4]   https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Lk/6/20-/

[5]   Vgl. Jon Sobrino: Christologie der Befreiung. Ostfildern 2008, S. 58 und S. 255.

[6]   Compassion als theologischer Begriff wurde von Jean-Baptiste Metz geprägt, der damit in seinem Buch Memoria Passionis ausgehend von der Erinnerung an die Leiden Jesu Christi die Autorität der Leidenden anerkannte und sie zur Basis eines allen Menschen verstehbaren Universalismus erklärte. Vgl. Jean-Baptiste Metz: Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg 2006.

[7]   Siehe Franz Böckle: Fundamentalmoral. München 1977, S. 215; Stefan Ernst: Grundlagen theologischer Ethik. Eine Einführung. München 2009, S. 357-358.

[8]   Louise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. 3. Auflage. München 2011, S. 290-294.

[9]   https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Mk/8/6-/; https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Mk/14/22-/

[10] https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Gal/3/3-/

[11] Sie impliziert, dass die Rolle nationaler Grenzen neu überdacht werden muss. Dass nationale Grenzen gerade für Menschen in höchster Not unüberwindbare Hindernisse darstellen, ist für eine Gemeinschaft mit dem hier beschriebenen Selbstverständnis ein nicht zu ertragendes Skandalon.

[12] „Vor fünf Jahren: Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch eingestürzt“ (23.4.2018), in: Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/268127/textilindustrie-bangladesch (Aufruf am 07.10.2020).

[13] https://lieferkettengesetz.de/

[14] Die unternehmerische Sorgfaltspflicht bildet die zweite Säule der „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ der Vereinten Nationen. Sie beinhaltet, dass Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit und ihre Geschäftsbeziehungen angefangen mit der Gewinnung der Rohstoffe und entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf menschenrechtliche Risiken hin überprüfen und entsprechende Maßnahmen umsetzen sollen. (https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Wirtschaft-Menschenrechte/Unternehmerische-Sorgfaltspflicht/unternehmerische-sorgfaltspflicht.html, Aufruf am 28.03.2021). Die Bundesregierung bemühte sich im Rahmen ihres „Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) vom Dezember 2016 zunächst um deren Umsetzung auf freiwilliger Basis. Der Abschlussbericht erschien im August 2020 und zeigte erhebliche Defizite auf. Ein großer Teil der globalen Konzerne hatte sich an den zwei Umfragen, mit denen die  Ergebnisse der Maßnahmen geprüft werden sollten, nicht einmal beteiligt“ (https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Wirtschaft-Menschenrechte/Ueber-den-NAP/Originalfassung-des-NAP/6-Monitoring/monitoring.html, Aufruf am 28.03.2021).

[15]   Donata Riedel & Frank Specht: „Streit um Lieferkettengesetz. Heil und Müller stellen sich gegen Altmaier“, in: Handelsblatt 17.07.2020, https://amp2.handelsblatt.com/politik/deutschland/menschenrechte-streit-um-lieferkettengesetz-heil-und-mueller-stellen-sich-gegen-altmaier/26003264.html.

[16] https://die-korrespondenten.de/fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.20.pdf

[17] „Lieferkettengesetz legt Axt an Erfolgsmodell. Wirtschaftsweisen laufen Sturm gegen geplantes Gesetz für gute Arbeitsbedingungen“ (27.08.20), in: Ruhrnachrichten Nr. 1999.

[18] „Pläne der Bundesregierung. Was ein Lieferkettengesetz bringen soll“ (14.07.20), in: Tagesschau.de, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/lieferkettengesetz-faq-101.html (Aufruf am 09.10.2020).

[19] Ebd.

[20] Ein Beispiel: https://www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de/produkte/bodenschatze/coltan/ (Aufruf am 28.3.2021).

[21] Die verschiedenen Versionen der Tora, des jüdischen Rechts, enthalten allesamt soziale Schutzbestimmungen, deren Einhaltung die Prophet*innen mit scharfen Worten einfordern, sobald sie von reichen oder politisch mächtigen Gruppen missachtet werden. So wird etwa der Landbesitzer darauf verpflichtet, „keinen Druck auf eine arme oder elende Person im Tagelohn“ auszuüben, unabhängig davon, ob sie aus dem eigenen Volk stammt oder fremd ist: „Gibt ihr ihren Lohn noch am gleichen Tag, bevor die Sonne untergeht – schließlich ist diese Person arm und sie verlangt danach. Dann wird sie nicht Adonai gegen dich anrufen, und es wird dir nicht als Sünde anhaften“ (Dtn 23,14). Vgl. Frank Crüsemann: Die Tora. Theologie und Sozialgesetzgebung des alttestamentlichen Gesetzes. 3. Aufl. Gütersloh 2005, S. 267.

[22] Vgl. Katrin Hirsch: „Kolonialgut Baumwolle. Stoff für Leidensgeschichten – bis heute“, in: Für Vielfalt. Zeitschrift für Menschenrechte und Minderheitenrechte 01/2021, S. 32-33 und Marion Mück-Raab: „Alltag in Indien – Steinbruch statt Schule“, in: Tagesspiegel 12.06.2017, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/tag-gegen-kinderarbeit-alltag-in-indien-steinbruch-statt-schule/19919180.html (Aufruf am 09.04.2021)

[23] Der Entwurf für ein Lieferkettengesetz in der Fassung, wie er am 03.03.2021 nach langem Ringen vom Kabinett verabschiedet wurde, ist aus befreiungstheologischer Sicht nicht ausreichend. Zu groß waren die Widerstände der Wirtschafsverbände und des Bundeswirtschaftsministeriums, denen die Profite deutscher Unternehmen wichtiger waren als der Schutz von Kindern und Erwachsenen vor Ausbeutung und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen. Dennoch wird dieses Gesetz die Lage vieler Menschen verbessern und ist ein Ansporn für die Zukunft, der Ausbeutung mit den Mitteln des Rechts entschieden entgegen zu treten. Siehe Zacharias Zacharkis: „Zügel für den globalen Kapitalismus“, in: Die Zeit, 12.02.21, https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-02/lieferkettengesetz-bundesregierung-deutschland-globalisierung-menschenrechte-umweltschutz-bussgeld (Aufruf am 08.04.2012).

[24] https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Ex/3/.

[25] Jon Sobrino: Christologie der Befreiung. Ostfildern 2008 S. 242, 282 f.

[26] https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Ex/3/7-8/.

[27] Arno Gruen: „Die Empathie als Katalysator der Autonomie“, in: Ders.: Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau. 21. Aufl. München 2010, S. 24-27.

[28] Gruen geht davon aus, dass „menschliche Entwicklung grundsätzlich zwei Richtungen nehmen kann, und zwar die, die ein mit der Außenwelt verbundenes Inneres ausbildet, und die, die zur Außengelenktheit unter Preisgabe des eigenen Inneren führt. Kennt eine außengelenkte Entwicklung nur noch Gehorsam und Anpassung und nicht mehr den Schmerz, ist destruktives Verhalten der ‚natürliche’ Endpunkt“. (Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität. 17. Aufl. München 2011, S. 11.)